Dokumentation der Preisverleihung 2011
Der Literaturpreis der A und A Kulturstiftung an Michael Speier für sein Lebenswerk als Gründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift Park wurde am 20. Mai 2011 im Rahmen einer Festveranstaltung mit Lesung und Musik im Literaturhaus Berlin verliehen.
Im Namen des Literaturhauses begrüßte Ernest Wichner die mehr als 100 Gäste im Kaminraum des Hauses.
Für die A und A Kulturstiftung sprach die Vorsitzende des Stiftungsvorstands Anita Runge.
Christoph Meckel ehrte den Preisträger in einer poetischen Laudatio.
Die Vorstandsmitglieder Judith W. Guzzoni und Martin Vöhler übergaben den mit 8.500 Euro dotierten Literaturpreis.
Aus ihren Gedichten lasen anschließend Uwe Kolbe, Christoph Meckel, Els Moors, Marion Poschmann, Monika Rinck.
Die Gruppe B_Port3.GSD: Joachim Gies (Saxophon, Komposition), Ravi Srinivasan (indische Perkussion), Chris Dehler (außereuropäische Instrumente) umrahmte musikalisch die Veranstaltung und den anschließenden Empfang.
Laudatio von Christoph Meckel
Im Dezember 1835 richtete Aleksander Puschkin ein Gesuch an den Grafen Benckendorff, Chef des zaristischen Geheimdienstes. Puschkin hatte vor, eine Zeitschrift für Literatur herauszugeben, die die lebendigen, freien und revoltierenden Stimmen der Dichtung Russlands sammeln und als Manifest von Freiheit gegen die reaktionäre, staatstreue Presse stellen sollte. Die Zeitschrift SOVREMENNIK – DER ZEITGENOSSE – erschien viermal im folgenden Jahr. Im Januar 1837 wurde Puschkin im Duell beseitigt, und die Zeitschrift wurde von literarischen Freunden weitergeführt. Vier Editionen in einem Jahr demonstrierten auf nur einmal mögliche, glanzvolle Weise, dass geistige Freiheit im Russischen Reich existierte. Puschkin hatte die Mitarbeit seiner Freunde gewonnen und die besten Autoren der russischen Zeit – das waren Aleksander Turgenev, Gogol, Baratynski, der Fürst Vjazemskij, Odoevski und der junge Dichter Fjodor Tjutcev, der mit den Initialen F.T. veröffentlichte, daher lange unbekannt blieb.
Den Vorschlag der Konservativen an Puschkin, für 15000 Rubel den Plan für die Zeitschrift fallen zu lassen, lehnte Puschkin ab. Sein Gesuch musste verschiedene Zensuren passieren. Das war an erster Stelle der Zar selbst. Er hatte sich zum Lektor und Zensor Puschkins erklärt, dieser Maulkorb wurde dem Dichter zum Verhängnis. Die zweite Zensur war die der Dritten Abteilung des Geheimdienstes, dahinter befand sich der Graf Benckendorff. Eine weitere war die NORMALE ZENSUR, es gab also auch noch eine NORMALE ZENSUR. Puschkin wurde ferner dazu verpflichtet, die Genehmigung der kirchlichen und der militärischen Zensur selbst einzuholen und vorzuweisen. Das waren fünf Zensuren auf einen Schlag. 180 Jahre später in der Geschichte hat man Gelegenheit zu erkennen, wie erschreckend modern das zaristische System organisiert war.
Die Courage Puschkins und sein Risiko waren ohne Beispiel. Er existierte ohne Chamäleontechniken, ohne Maske in den Hierarchien der Adelsgesellschaft und ihren Zwängen, war mehrmals verbannt worden, unter Aufsicht gestellt, verboten und in unerträglicher Weise öffentlich gedemütigt. Dass er sich mit Spott, Übermut, Verachtung und geistreichen Epigrammen, die in ganz Russland kursierten, zur Wehr setzte, konnte ihm nur schaden. Doch sein Wort FREIHEIT war so stark, dass er und seine Freunde alle Bedenken überwanden.
Diese Art von Revolte ist das große – für mich größte – Beispiel, und es ist nicht das einzige. Die Literaturen der Welt sind voll von Ausbrüchen, Vorstößen in legaler und illegaler Form von Zeitschrift. Afrikanische Zeitschriften der Dreißiger- und Vierzigerjahre, gegen koloniale Verhärtung gerichtet, in denen die NEGRITUDE Gestalt und Gewissheit gewann, wie in den Namen Aimé Césaire, Leopold Senghor und Léon Damas. Die pazifistischen WEISSEN BLÄTTER, von 1916 bis 1920 in Zürich herausgebracht, von René Schickele allein. Das GOLDENE TOR, in französischem Auftrag nach 1945 in Baden-Baden herausgegeben, von Alfred Döblin allein. Die weithin schallende, nie verhallte Stimmgewalt Karl Kraus’, der mit seiner Zeitschrift DIE FACKEL den Zeitgeist frontal angriff, alles Halbe, Falsche, Menschenunmögliche in Kunst, Gesellschaft und Politik mit prophetischem Zorn aus dem Tempel der Welt vertreiben wollte, allein. Es gab in England den Romancier und Maler Wyndham Lewis, einen Künstler mit zwei Hauptberufen, der eine eigene Literatur- und Kunstzeitschrift herausbrachte: THE ENEMY, DER FEIND. Der Autor brach hellsichtig, mit BÖSEM BLICK und vehementer Kritik in Kunst und Gesellschaft der Dreißigerjahre hinein. Man nannte ihn geschmacklos, sprach ihm Talent und Charakter ab, bezeichnete ihn als Wirrkopf, pathologische Schnauze. Er machte weiter, verirrte sich in Isolation und Überreiztheit seines Feindseins, verfasste ein monströses Kompendium Prosa, in dem er den deutschen Nationalsozialismus bejahte – plutonisches Genie, im beginnenden Alter erblindet, bedeutender Maler scharfkantiger, schlagschattenharter Abstraktionen. Seine Portraits der Freunde T.S.Eliot, Lady Sitwell und vor allem Ezra Pound, in den Dreißigerjahren entstanden, gehören zu den erstaunlichen Menschenbildern des Zwanzigsten Jahrhunderts.
So manche dieser Steuerleute – PALINUREN – zeichnet aus, dass sie ihre Projekte selbst finanzierten und, wie Karl Kraus, mit eigenen Texten füllten. Das waren und sind reiche Charaktere, Anreger, Vermittler, Createure, Stifter und Gründer ganzer Traditionen. EDOUARD RODITI, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitschrift DAS LOT unterhielt, als erster den literarischen und bildnerischen Surrealismus aus Paris in die drei westlichen Zonen Deutschlands brachte. Ein Gentleman, Causeur, Improvisator großen Stils und der einzige, der den wortkargen Juan Miro in einem fulminanten Interview zu gültigen Aussagen veranlassen konnte.
Uli Beier, der aus Berlin über Palästina und London nach Afrika kam, in Nigeria, danach in Papua-Neuguinea mit Zeitschriften und von ihm eingerichteten Galerien, die er SCHREINE nannte, ganz neue Progressionen, Überzeugungen, Praktiken und Schulen von Literatur und Kunst der Schwarzen in Bewegung brachte, allein. Wir fuhren im undichten Deuxchevaux in der Regenzeit durch den palavernden, tropfenklatschenden, schallenden Busch nach Benin zu einem Bildhauer, der auf seinem Grundstück ein eigenes Museum in Form eines Elefanten errichtet hatte. Im linken Vorderbein befanden sich Eingang und Wendeltreppe. Unter der Rückenwölbung im Bauch standen und hingen seine Skulpturen. Er wies mit stolzer, schöner Handbewegung auf seinen Entdecker, Mentor, Freund Uli Beier und sagte: HE IS THE MAN WHO MAKES ME GOOD IN THE WORLD!
Michael Speier ist Literaturwissenschaftler, das ist der Beruf. Er ist Herausgeber des Paul-Celan-Jahrbuchs und Gastprofessor an amerikanischen Universitäten. Er schreibt Gedichte, das ist ein Hauptgeschäft. Als Unternehmer seiner Zeitschrift PARK ist er Créateur und Literaturhandwerker eigener Art. Er ist, wie andere auch, der präsente, aufmerksame und erfahrene Leser und Lektor unzähliger Manuskripte. Als Mitarbeiter seiner Übersetzer und als Kritiker ist er für PARK tätig, hält sich aber an die alte, goldene Regel, kein eigenes Gedicht als BLINDEN PASSAGIER in der eigenen Zeitschrift mitzuführen. Er verhandelt mit zuständigen Stellen verschiedener Länder, die vielleicht gewillt oder in der Lage sind, für Übersetzung von Lyrik ein Sparschweinchen auszunehmen. Er meistert zuverlässig und mit Charme eine immense Korrespondenz und jobbt als sein eigener Postmeister, mit dem Eintüten der PARK-Hefte überbeschäftigt, bringt die schwerwiegende Menge der Drucksachen zur Poststelle im Supermarkt, und auch dabei hilft ihm keiner. Er verschickt seine Zeitschrift an Abonnenten und Buchhandlungen, es sind noch Buchhandlungen da, die sich für PARK interessieren, an Bibliotheken und Universitäten des In- und Auslandes. Mal hier, mal dort, nicht allzu häufig, taucht das Wort PARK in einer Sammelrezension auf, und fertig. Die notwendigen Anträge auf Unterstützung werden von den offiziellen Stellen neutral zur Kenntnis genommen, selten beantwortet. Das muss man sich mal vorstellen, ruft Jubal der Tagdieb und zitiert ein paar eigene Zeilen: Der Geduldsfaden, den dieser Parkwächter fortspinnt, wäre von mir, liebe Freunde, schon vor 30 Jahren zerrissen worden! 30 Jahre PARK sind vergangen, und wenn es hochkommt, hat die Unermüdlichkeit des Herausgebers dazu beigetragen, dass dem unzumutbaren Satz widersprochen wird: Lyrik lebt nicht, überlebt aber immer weiter.
In 30 Jahren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft PARK hat sich der eine oder andere Zweifel nicht nehmen lassen, den Unternehmer zu beschleichen, aber umsonst. Er hat der Ermüdung verwehrt, ihm Schwarzgalle in den Traum zu tun. Ich habe von ihm kein Murren grauer Laune, kein Minotaurusgebrüll von Enttäuschung je gehört. Das muss man sich mal vorstellen, ruft Jubal der Nachtdieb und zitiert noch einmal eine eigene Zeile: Ich, wenn ich in dieser Art Laufrad liefe, ich würde abspringen ohne Fallschirm und Flügel und mir kein eigenes Bein gebrochen haben!
Er bezahlt seine Sache PARK aus der eigenen Tasche, die dem GOLDENEN NICHTSCHEN IN EINEM NIEMALENEN BÜCHSCHEN – eine Zeile aus „Des Knaben Wunderhorn“ – sehr viel ähnlicher sieht als dem magersten Goldesel. Ein einziges Mal, vor ein paar Jahren, hat sich ein Sponsor finden lassen. Das ist ein Geschäftsmann und Kunstsammler aus dem Badischen, also weit weg von der Werkstatt PARK. Was seine Spendierhose so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass er sie bis heute anbehält. Man weiß von Sponsoren, die lieber in Erscheinung treten, wo sie zuhause sind, ihre Zuwendung Beachtung findet. Er scheint einer zu sein, der über Schatten zu springen weiß.
Der Titel der Zeitschrift – PARK – entspricht heute nicht mehr ihren Inhalten und nicht der Art ihrer Vermittlung. PARK suggeriert Ordnung, Plan und Pflege oder Labyrinth als Gartenspiel und Dekor, Verwilderung als Kulisse, das hat mit den Überzeugungen des Herausgebers und der Autoren nicht viel gemein. Mir fiel früh auf, dass Michael Speier den eigenen Welt- und Literaturraum von Ideologie freihält, an Weltanschauung welcher Art auch immer nie und nirgends festmacht. Politische Dichtung und ihre Vermittlung ist nicht sein Teil. Er profitiert davon, wie jeder HIRNHUND und HOMO FABER, dass sich im westlichen Europa seit Jahrzehnten das meiste an Literatur behaupten konnte, ohne verfolgt und kassiert zu werden. Dass zu Bekenntnis, Geständnis, Definition und Preisgabe seiner selbst ein exponierter Dichter hier nicht verurteilt war. Es scheint jedem Skarabäus möglich, jenseits von Terror seine undurchsichtige Kugel zu drehen. Aber Michael Speier ist nicht Ästhet und nicht Eskapist. An dieser Stelle könnte ein Tagebuch-Satz von Oskar Loerke aufleuchten: Etwas zu sein und nicht zu scheinen, ist mir ein schönes, natürliches Gefühl.
Die Hefte PARK enthalten drei Teile Inhalt. Das sind Gedichte und Essays von Autoren aller Generationen, vor allem aber von jungen Dichtern. Übersetzungen von Lyrik, zweisprachig gegenübergestellt, aus den Kultursprachen und anderen, die nicht dazu gezählt werden, der katalonischen, serbischen, finnischen Sprache. Übersetzt wurden Gedichte aus mehr als zwanzig Sprachen. Dieses Übersetzen seit dreißig Jahren ist eine weitreichende, großartige Initiative, die ihre Folgen noch vor sich hat. Im dritten Teil der Hefte folgen Theorie, Kritik, Polemik, Referat und Rede zur Literatur.
Könnte heute die Geschichte der Zeitschrift erforscht und aufgezeichnet werden, käme man zu dem Schluss, dass PARK ein Perpetuum Mobile poetischer Avantgarde war und ist. Das Wort Avantgarde wird lange schon als gegenstandslos, überlebt und für mausetot erklärt. Ob das zutrifft, steht für mich dahin. AVANTGARDE der Zeitschrift PARK stellt keine Programmatik aus, ist keine Fanfare und erscheint nicht mit dem Anspruch auf exklusiven Wert. Dass hier etwas wie Avantgarde lebendig ist und bleibt, hat – kann sein – mit dem unspektakulären Erscheinen der Zeitschrift zu tun. Man könnte glauben, es handle sich um ein Periodikum, das zu allen anderen noch hinzukommt, oder, wie einer mal verlauten ließ: Da drin stehn Sachen, die man nicht extra liest. Kein Goldschnitt – das ist in Krach, Tempo und chronischer Übertreibung literarischen Geschehens eine Chance. Die große Chance ist der lange Atem des Herausgebers. Langer Atem – was ist das? Den längeren oder langen Atem zu haben, ist für den, der Poesie macht und verantwortet, eine erste oder letzte Notwendigkeit. Langer Atem ist die Voraussetzung dafür, dass ein Werk zu sich selbst kommt, unter jeder Bedingung, über Infragestellung aller Art weit und frei hinweg. Dass ein Autor, eine Zeitschrift Charakter behauptet, Selbstähnlichkeit bewahrt, eine eigene Kontinuität erfüllt und die schallenden, schnellen Geschäfte hinter sich lässt.
Langer Atem, das sind 30 Jahre Arbeit PARK, – aber nicht wie einst die des einfachen Arbeiters im Weinberg – ausgehend von der hellen Überzeugung, dass Dichtung die Welt und den Menschen an die einzig mögliche Stelle bringt.
Ich gebe weiter einen Gruß, mit dem der große alte Viktor Otto Stomps seine Freunde zu jeder Tag- und Nachtzeit erfreute: Guten Morgen, Michael!